Definition und Konzept
Hybride Bedrohungen lassen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sowie zwischen Freund und Feind gezielt verschwimmen, indem sie untypische Instrumente in untypischen Kombinationen zum Einsatz bringen. So erzeugen sie einen Zustand strategisch kalkulierter Ambiguität, in dem das bedrohte Ziel seine Lage nicht mehr eindeutig einschätzen kann. Der Heidelberger Hybrid Threat Indicator macht diese Ambiguität messbar und wird damit zu einem Frühwarnsystem für hybride Bedrohungen und deren Entwicklung über Zeit. Dazu blickt sie auf die drei Ambiguitäts-Dimensionen Komplexität, Abstreitbarkeit und Bindungsfähigkeit.

Die Komplexität ergibt sich aus der Vielzahl und der Vielfalt der hybriden Bedrohungskampagne. Damit ist nicht nur die Anzahl der eingesetzten Instrumente relevant, sondern auch die Interaktionsmuster, in denen sie kombiniert werden. Je ungewöhnlicher diese Interaktionsmuster sind, desto höher die Komplexität. Damit verschleiern hybride Aggressoren ihre Intention.

Mit der Abstreitbarkeit wollen hybride Aggressoren entweder die Handlung selbst oder die Urheberschaft für eine Handlung verschleiern. Dazu setzen sie zum Beispiel geheime Spionageoperationen oder sogenannte Proxygruppen ein. Damit erschweren sie dem angegriffenen Staat, die hybriden Bedrohungskampagne zu beantworten bzw. zu bestrafen.

Hybride Aggressoren machen andere Staaten strategisch von sich abhängig. Die damit aufgebaute Bindungsfähigkeit ist für sie ein Machthebel, den sie im richtigen Moment umlegen und gegen ihren Zielstaat einsetzen können. Entscheidend ist dabei die Vulnerabilität des angegriffenen Staates. Sie ergibt sich daraus, wie stark er auf den Import angewiesen ist und wie viele Partner ihm dazu zur Verfügung stehen.
Die Phasen hybrider Bedrohungen
Hybride Bedrohungskampagnen lassen sich in unterschiedliche Phasen unterteilen. Sie reichen vom Priming über die Destabilisation bis hin zur Coercion (Hybrid CoE 2021). Der HTI kann über das Ausmaß der Ambiguität ermitteln, in welcher Phase sich eine spezifische hybride Bedrohungskampagne befindet. Damit liefert er wichtige Anhaltspunkte für das Gefahrenpotenzial und die weitere Entwicklung der Bedrohungslage.
Priming
In der Priming-Phase wollen hybride Aggressoren möglichst unbemerkt fruchtbaren Boden für ihre hybride Kampagne schaffen. Einerseits setzen sie dazu auf plausibel abstreitbare Instrumente. Dazu gehören unter anderem geheime Spionageoperationen oder Cyberangriffe. Andererseits kommen traditionelle Außenpolitikinstrumente zum Einsatz, die Bindungsfähigkeit aufbauen sollen. Das Vermischen dieser unterschiedlichen Interaktionsmuster erhöht zusätzlich die Komplexität. Diese Phase ist damit durch zunehmende Ambiguität gekennzeichnet.

Destabilisation
Mit der Destabilisation-Phase beginnt die gezielte Einflussnahme auf den angegriffenen Staat. Auch wenn die böswilligen Handlungen bemerkbarer werden, möchte der Aggressor seine Beteiligung an ihnen weiterhin verschleiern. Das schränkt seinen Instrumentenkasten erheblich ein und erschwert die Kombination unterschiedlicher Interaktionsmuster. Die Abstreitbarkeit bleibt also auf einem hohen Niveau, während die Komplexität abfällt. Weil der Zielstaat nun bereits reagiert und damit beginnt, Abhängigkeiten zu reduzieren, sinkt auch die Bindungsfähigkeit. Diese Phase ist damit durch stark abnehmende Ambiguität gekennzeichnet.

Coercion
In der Coercion-Phase soll der angegriffene Staat durch Zwang dem Willen des hybriden Aggressors unterworfen werden. Intention und Urheberschaft seiner hybriden Kampagne werden damit zunehmende eindeutig. Ob die angewandten Instrumente noch plausibel abstreitbar sind, ist für ihn also nicht mehr relevant. Dadurch wächst sein Instrumentenkasten, der auch untypische Interaktionsmuster wieder erlaubt. Die Komplexität nimmt damit wieder stark zu. Die Bindungsfähigkeit fällt im Lichte der offenen Aggression weiter ab. In dieser Phase sollte sich damit die Ambiguität auf einem mittleren Niveau stabilisieren.

Wie der HTI hybride Bedrohungen misst
Der HTI vermisst Ambiguität entlang ihrer drei Dimensionen Komplexität, Abstreitbarkeit und Bindungsfähigkeit. Damit misst er nicht hybride Bedrohungen an sich, sondern die Chance auf hybride Bedrohungen in Form der Ambiguität. Aktuell kann er je ein Maß für Komplexität und für Bindungsfähigkeit ermitteln. Dazu kombiniert er unterschiedliche Datensätze und greift mit Künstlicher Intelligenz und sequentieller Netzwerkanalyse auf neueste Methoden der empirischen Sozialforschung zurück. Ein Indikator für Abstreitbarkeit befindet sich noch in der Entwicklung.
Datengrundlage
Grundlage für den Komplexitäts-Index bilden die Instrumente, die im Rahmen der hybriden Kampagne zum Einsatz kommen. Zu deren Eingrenzung orientiert sich unser Projekt an dem Modell des European Center of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE), das insgesamt 33 Instrumente identifiziert. Die entsprechende Datengrundlage bilden die Ereignisdatensätze der Traversals Analytics and Intelligence GmbH, der und des European Repository of Cyber Incidents (EuRepoC) sowie die POLitical Event Classification, Attributes, and Types (POLECAT) Datenbank.
Der Indikator für Bindungsfähigkeit

Um die Bindungsfähigkeit zu ermitteln, haben wir zusätzlich einen weiteren Datensatz aufgebaut, der die Berechnung der Energieabhängigkeit und die Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen erlaubt. Dazu setzt er die Energiebilanz ins Verhältnis zur insgesamt verfügbaren Energie. Die zugrundeliegenden Daten stammen von Eurostat und erlauben eine monatliche Auflösung für Energieabhängigkeit und eine jährliche Auflösung für die Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen. Der resultierende Index für die Bindungsfähigkeit kann zwischen 0 (=keine Bindungsfähigkeit) und 1 (=maximale Bindungsfähigkeit) liegen.
Der Indikator für Komplexität

Die Komplexität einer hybriden Kampagne nimmt dann zu, wenn die Instrumente in untypischen Kombinationen bzw. Interaktionsmustern zum Einsatz kommen. Um zu messen wie untypisch sie sind, nutzt der HTI die sequentielle Netzwerkanalyse. Auf Basis von Beobachtungen aller NATO-Mitgliedsstaaten sowie der Ukraine bildet er einen Referenzgraphen für typische Instrumentenkombinationen. Das Komplexitäts-Maß gibt anschließend an, wie sehr sich eine bestimmte Instrumentenkombination zu einem bestimmten Zeitpunkt von dieser typischen Instrumentenkombination unterscheidet. Es kann zwischen 0 (=keine Komplexität) und 2 (=maximale Komplexität liegen).
Der Indikator für Ambiguität

Aktuell setzt sich das Maß für die Ambiguität aus der Komplexität und der Bindungsfähigkeit zusammen. Die Komplexität verschleiert die böswillige Intention des Angreifers und vergrößert die mögliche Angriffsfläche einer hybriden Kampagne. Die Bindungsfähigkeit wiederrum erhöht den verursachten Schaden, der von ihr ausgelöst wird.
Ambiguität funktioniert dabei wie eine Welle: Ist sie besonders breit, trifft sie auf einen größeren Bereich (Komplexität). Ist sie besonders hoch, verursacht sie größeren Schaden (Bindungsfähigkeit). Je breiter und höher die Welle ist, desto unsicherer muss sich der Staat fühlen, auf den sie zurollt.
Bildquelle: flaticon.com/de/autoren/freepik